von Jens Bemme und Martin Munke

Citizen Science-Projekte gibt es mindestens seit dem 19. Jahrhundert und BürgerInnen, die forschen, noch länger. Bibliotheken waren und sind seitdem wichtige Elemente solcher Forschungsprozesse – immer dann, wenn Wissen aus Büchern bzw. Bibliotheksbeständen erworben wurde oder in neuen Büchern seinen Weg zurück in Bibliotheken fand. Wie vielfältig die Rolle von Bibliotheken und ihre Beiträge zu Citizen Science-Projekten inzwischen sind, erklären Jens Bemme und Martin Munke anhand der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden.

Die von vielen Bibliotheken vertretene Open Science-Philosophie mit ihren Teilaspekten Open Access, Open Data, Open Source usw. befördert die Idee, dass jede/r ein/e ForscherIn ist bzw. sein kann und das längst nicht nur auf dem Gebiet der eigenen professionellen bzw. beruflichen Expertise. Die Werkzeuge der Wikimedia-Welt tragen beispielsweise dazu bei, offene Ansätze von Informationsbeschaffung und Wissensgenerierung in weiten Teilen der Gesellschaft niedrigschwellig zu verbreiten. Die dabei entstehenden, oft fluiden Datenbestände werden insbesondere von wissenschaftlichen Bibliotheken vielfach genutzt, auch wenn sie ihren Ansprüchen nach Eindeutigkeit und Dauerhaftigkeit bisweilen widersprechen. Digitalisierungsprozesse eröffnen auf diese Weise neue Möglichkeiten für die ehrenamtliche bzw. die Laienforschung.[i] Bibliotheken sind in diese Prozesse seit Jahren involviert. Dabei sind die “Herausforderungen des digitalen Zeitalters” inzwischen fast zu Floskeln geworden, treffen aber auch auf Bibliotheken zu. Zugleich ist der Weg von “user generated content” zu Citizen Science nur sehr kurz, aber neu ist er nicht!

Daraus folgt: Bestehende und vermeintlich neue Aufgaben von Bibliotheken müssen bewertet und priorisiert werden. Unterstützung für die Bürgerwissenschaften kann hier zu Synergien führen, einerseits. Andererseits entstehen potenziell Konflikte im Verhältnis zu anderen Bereichen und Aufgaben. Wie also sollen sich Bibliotheken in diesem Handlungsfeld positionieren? Dieser Frage gehen wir im vorliegenden Beitrag am Beispiel der SLUB Dresden nach. Wir sind uns dabei bewusst, dass wir keine abschließende Antwort und kein fertiges, allgemeingültiges Konzept präsentieren. Der Beitrag soll aber Teilantworten und Anregungen liefern. Er ist die ausformulierte Fassung unseres Vortrags auf dem 7. Deutschen Bibliothekskongress am 18. März 2019 in Leipzig.

Moderne Herausforderungen: Fragen der Strategieentwicklung

Den Hintergrund für unsere Überlegungen bildet der derzeitige Strategieprozess “SLUB 2025”. In ihm fragen wir nach den Themenschwerpunkten unserer Bibliothek für die kommenden Jahre, nach Tätigkeitsfeldern, die fortgeführt und ausgebaut, und nach solchen, die eingeschränkt bzw. eingestellt werden sollen. Auch das Themenfeld “Citizen Science” soll in diesem Prozess bewertet werden. Besonders im Saxonica-Referat setzen wir uns mit entsprechenden Fragen auseinander, z.B. mit Blick auf den kürzlich erfolgten Start des Regionalportals Saxorum, für das bürgerwissenschaftliche Elemente eine wichtige Rolle spielen. 2018 ist dafür ein Thesen- und Fragenpapier entstanden, das auch die Grundlage für diesen Beitrag bildet. Es setzt sich u.a. mit der Doppelrolle der SLUB als Landes- und als Universitätsbibliothek auseinander.

Einerseits ist die SLUB als Universitätsbibliothek auf die Unterstützung des professionellen Wissenschaftssystems und der Studierenden ausgerichtet. Andererseits bedient sie als Landesbibliothek traditionelle bürgerwissenschaftliche Felder wie Heimat- und Familienforschung, z. B. durch die Bereitstellung von Quellen oder Beratungsleistungen. Durch die Open Science-Philosophie bestehen zudem Kontakte zu neueren Feldern von Citizen Science (die gleichwohl häufig die traditionellen Themen aufgreifen): Recherche und Datenpflege in Wikipedia und Wikidata oder die digitale Transkription historischer Quellen in Wikisource. Daneben tritt Crowdsourcing als Strategie, für eigene Erschließungsvorhaben Unterstützung zu suchen. Ein Beispiel dafür ist das Virtuelle Kartenforum 2.0 mit seiner Georeferenzierung digitalisierter historischer Karten durch die Nutzer.

Mit Blick auf die Vielzahl der Aufgaben ergeben sich so einige Fragen, die jenseits der Schwerpunkte einer bestimmten Bibliothek allgemeingültig sein dürften. Da ist zunächst die Frage nach den Zielen: Was wollen Bibliotheken mit Citizen Science-Vorhaben erreichen? Geht es ihnen um die Unterstützung eigener Vorhaben, die aus Bordmitteln allein nicht zu bewältigen wären? Sollen bestimmte Nutzergruppen gebunden und aktiviert werden? Daraus resultiert weiter: Welches Publikum, welche Gruppen sollen erreicht werden? Handelt es sich um die “klassischen” Heimatforscher, die nun an digitale Methoden herangeführt werden sollen? Geht es um netzaffine Wikipedianer oder eine Schnittmenge aus diesen und anderen Gruppen? Hinzu kommt: Sind Citizen Science-Projekte ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem wir uns in der Bibliothekswelt profilieren möchten? Oder ist Kooperation das Ziel, auch um bei gegebenem Ressourceneinsatz (Zeit, Geld, …) möglichst große Wirkungen zu erzielen? Und schließlich die Frage nach der Priorität: Ist Citizen Science ein Aufgabenfeld, dem wir uns als Sächsische Landesbibliothek vordergründig widmen wollen und sollen? Oder handelt es sich um eine nachrangige Aufgabe? Wir engagieren uns, in dem wir auf Anfragen reagieren: Überlassen wir also Initiativen den forschenden Communities “draußen”? Sollen Bürgerwissenschaften überhaupt ein Thema sein, mit dem sich Bibliotheken systematisch beschäftigen? Dazu einige Thesen aus dem Strategiefindungsprozess:

Unsere Arbeitsthesen und -themen – eine Auswahl

• Citizen Scientists nerven. Ob Nerds oder “alte weiße Männer”, extremes Nischenwissen, leidenschaftliche, aber zuweilen penetrant erscheinende Anfragen und aufwändige Sonderwünsche für Recherchen und Tools zeichnen diese Nutzergruppe aus, oder!?
• Citizen Scientists halten uns von echter Wissenschaft ab. Wie oft wurden wir schon gefragt, wann wir uns endlich wieder um die Infrastruktur und die Fragen professioneller Forschung kümmern? Citizen Science ist gut, aber eher spaßorientiert!
• Ohne Citizen Science geht’s nicht. Laut den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden: Keine Roten Listen gefährdeter Arten ohne sogenannte Laienforscher!
• Heimatforschung profitiert von Linked Open Data. Aber: Wie bekommen wir Open Access und Open Data ganz praktisch in BürgerInnenköpfe?
• Citizen Science macht glücklich! Sowohl als auch.

Im Arbeitsalltag der SLUB sind die folgenden Citizen Science-Themenfelder, -Projekte und -NutzerInnengruppen bereits heute – teils traditionsreich – präsent:

• Genealogische Forschungsanliegen machen einen großen Teil des Beratungsgeschäfts der SLUB für BürgerInnen aus. In der SLUB wird dieses Thema mit individuellen Beratungsterminen in der Wissensbar, Vorträgen, der Einführung in Quellen und einer Kooperation mit dem Dresdner Verein für Genealogie bedient.
• Formate für Nutzer mit Anliegen der Orts-, Heimat- und Regionalforschung sind über die Wissensbar hinaus der jährliche Dresdner Geschichtsmarkt und regelmäßige Schulungen in Zusammenarbeit mit Akteuren wie Archiven und Forschungsinstituten, organisiert vom Sächsischen Landeskuratorium Ländlicher Raum. Geplant ist für Januar 2020 eine gemeinsame Schulungs- und Vernetzungstagung mit der Arbeitsgruppe Industriekultur im Landesverein Sächsischer Heimatschutz unter der Überschrift “Lebendiges Netzwerk der Industriekultur im Ehrenamt. Akteure und Möglichkeiten”.
• Mit Blick auf eine angedachte Ausstellung zur Industriekultur in Sachsen wurde das Transkriptionsprojekt “Album der sächsischen Industrie” in Wikisource (auf Basis von Digitalisaten der SLUB) mit Wikidata vollständig erschlossen. Von dritter Seite wurde eine Vervollständigung fehlender Datensätze und eine Visualisierung beigesteuert.
• Das “Illustrierte Familienblatt. Die Gartenlaube” (1853–1899) ist ein großangelegtes Wikisource-Projekt. Wir konzentrieren uns insbesondere auf die Erschließung von Texten über Sachsen. Darüber hinaus konnten wir bereits Interesse für die Abfrage, automatische Erschließung und Visualisierung des Gesamtbestandes in Wikisource wecken.
• Wir werden diese neu erschlossenen Texte später für einen Import in die Sächsische Bibliografie Bis dahin erfolgt die Abfrage von Wikisource-Texten mittels Wikidata-Query. Eine weitere Anreicherung der Datenobjekte im Rahmen der Sächsischen Bibliografie ist angedacht.

Perspektiven

Deutlich werden – in aller Kürze – Verbindungen, Potentiale und Gegensätze, die zwischen traditionellen Feldern wie der Heimat-, Familien- und Naturforschung sowie neueren Formen von Citizen Science bestehen können. Die Wikimedia-Welten bieten FreizeitforscherInnen Gelegenheiten, Neugier und Wissen zu teilen und zusammen zu arbeiten. Zugleich steigt aber auch der Aufwand, den BibliotheksmitarbeiterInnen für die Kommunikation mit Projektpartnern, Initiativen, für Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit aufwenden müssen, um zivilgesellschaftliche AkteurInnen wirkungsvoll und “auf Augenhöhe” zu vernetzen, beraten, gewinnen und binden. Das geht nur gemeinsam mit Partnern, wie die genannten Beispiele aus dem Arbeitsalltag zeigen. Das Saxonica-Team der SLUB wirkt außerdem seit 2018 bei der Strategieentwicklung der BMBF-geförderten Citizen Science-Plattform “Bürger schaffen Wissen” mit, um die regionale Verankerung, Vernetzung und Förderung von Citizen Science-Methoden zu begleiten. Auch in Dresden sind wir an solchen Vernetzungsinitiativen beteiligt.

“Citizen Science macht glücklich!” war ein Vortragsfazit von Dr. Matthias Nuß, Insektenforscher der Senckenberg-Sammlungen in Dresden. Stimmt das Credo? Sowohl als auch! Auf individueller Ebene sind Erfolge relativ leicht zu erzielen: durch individuelle Beratungen, eigene Forschungserfolge, die Dritten weiterhelfen, aktive Vernetzung, Weichenstellungen und wirksamen Support. Rahmenbedingungen und Erfolgspotentiale systematisch zu vergrößern ist aber auch eine Frage von institutionellen Ressourcen, um eine gute Mischung aus reagierender, vorausschauend aktiver und initiativer Citizen Science-Förderung zu erreichen und beiderseitiges Lernen zu ermöglichen.

Als Teilaufgabe der Landeskunde im Saxonica-Referat der SLUB ist Citizen Science bisher eine Nebentätigkeit – funktioniert aber nicht “nebenbei”: Wenn Themen angestoßen und Kontakte geknüpft wurden, brauchen sie Aufmerksamkeit und persönlichen Einsatz. Weitere Bereiche der Bibliothek kommen im Rahmen ihrer regulären Aufgaben ebenfalls mit diesen Themenfeldern in Berührung. Zudem werden – erst recht durch das vom Freistaat finanzierte Landesdigitalisierungsprogramm – fortlaufend weitere historische Quellen für die offene Forschung elektronisch zugänglich gemacht. Die Grundlagen für mehr Citizen Science in der Landeskunde sind also längst gelegt.

“Es ist gut, wenn mit den Sachen was passiert!”, so Wikisource-Aktivist Andreas Wagner aus Dresden. Jetzt geht es um die Nutzung der wachsenden Möglichkeiten für die AkteurInnen und Methoden der Bürgerwissenschaften. Regionale Verbindungen – über Landesgrenzen und die Grenzen von Forschungseinrichtungen hinweg – sind die Basis für gute Bibliotheksarbeit und für Citizen Science.

 

Jens Bemme studierte Verkehrswirtschaft und ist heute nach Stationen in der Öffentlichkeitsarbeit Mitarbeiter im Saxonica-Referat der SLUB. Er forscht mit digitalisierten Quellen zu regionalem Radfahrerwissen, insb. der Oberlausitz und der Ostseeprovinzen. Wikidata und Wikisource sind für ihn unverzichtbar.

Martin Munke ist Historiker und Europawissenschaftler. Nach Stationen in Lehre und Forschung leitet er seit 2016 das Saxonica-Referat an der SLUB. Er arbeitet zu Beziehungsgeschichte(n) in Ostmittel- und Osteuropa vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, zu historischen Reiseberichten und zur digitalen Landesgeschichtsforschung.

Gemeinsam bloggen sie unter https://saxorum.hypotheses.org/.

 

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[i] Zum Begriff(en) und Konzept(en) in unserem Kontext vgl. Martin Munke: Citizen Science/Bürgerwissenschaften. Projekte, Probleme, Perspektiven (am Beispiel Sachsen). Vortrag zur Tagung „Forschungsdesign 4.0. Datengenerierung und Wissenstransfer in interdisziplinärer Perspektive”, Dresden, 26. April 2018, URN: urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-212047.

 

 

 

 

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